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Besprechung CD

Roger Norrington

Beethoven

SWRmusic 93.084

1 CD • 57min • 2002

04.08.2003

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 9
Klangqualität:
Klangqualität: 10
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 9

Der komplette Zyklus mit live-Mitschnitten aller Beethoven-Sinfonien mit dem SWR-Orchester unter Sir Roger Norrington wird den hohen Erwartungen nach dem vielversprechenden Start mit der Neunten mehr als gerecht. Während viele Orchester immer noch einem hoffnunglos falsch verstandenen Historismus anhängen und sich jeder ‚Informiertheit‘ verweigern, setzt die Arbeit des RSO Stuttgart neue Maßstäbe: Es tritt – wie bereits in den 90ern das Concertgebouw Orkest unter Nikolaus Harnoncourt – den Beweis an, daß man in einem modernen Orchester bei gutem Willen durchaus historisch informiert musizieren kann. Davon zeugt auch eine vom Orchester herausgegebene CD mit einem Zusammenschnitt der von Norrington auf deutsch gehaltenen Konzerteinführungen, die dankenswerterweise der im August erscheinenden Gesamt-Box als Bonus-CD beiliegen wird. Inzwischen kann das RSO Spätromantik und Beethoven stilistisch angemessen am gleichen Abend musizieren – eine Flexibilität, wie man sie in Deutschland (leider!) sonst nur noch bei der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen findet. Dies ist das Verdienst der langfristigen Aufbauarbeit Norringtons, aber auch der Aufgeschlossenheit der Musiker, daß man sich beim RSO überhaupt um Aufführungspraxis bemüht. Bei der Lektüre der Booklets fragte ich mich jedoch, ob man solche Ideen gleich semi-ideologisch vermarkten muß. Ich finde es sehr unbefriedigend, daß man einerseits in Peter Schleuning einen der arriviertesten Beethoven-Kenner als Autor gewinnen konnte, ihm andererseits aber nur jeweils knapp zwei Seiten Platz einräumt, wärend die übrigen fünf Seiten sich in den immer gleichen Hymnen über das Orchester, den Dirigenten und den Beethoven-Zyklus ergehen. Nicht zuletzt hätten sich sicherlich auch audiophile Fans einige detailliertere Informationen gewünscht. Mit Ausnahme des Hinweises, daß es sich – ohnehin naheliegend – um Digitalaufnahme handelt, erfährt man über die Technik (DSD, andere Spezialverfahren?) rein gar nichts.

Der Vergleich mit Norringtons früherer Einspielung mit den London Classical Players vor etwa 25 Jahren erbringt diverse Vorzüge, aber doch auch Schwächen. Die neuen Aufführungen wirken aufregend, aber durchaus gewollt inszeniert: Norrington erlaubt sich noch mehr persönliche Freiheiten als früher. Auch eine gewisse Kurzatmigkeit stellt sich mitunter ein, wenn auszuhaltende Noten über Gebühr verkürzt werden. Das mag aber auch damit zu tun haben, daß sich die Streicher doch noch nicht restlos an das non-Vibrato gewöhnt haben und lange Noten vielleicht nicht immer mit dem Bogen bis zum Ende spannen, sondern im Eifer des Gefechts manchmal da aufhören, wo sie früher nachvibriert hatten. Während Norrington in seinen früheren Beethoven-Einspielungen von den Naturhörnern manche Stopftöne selbst da forderte, wo sie ohne weiteres offen geblasen werden konnten, weigern sich nunmehr offenbar die Hornisten im RSO, sogar da Stopftöne zu verwenden, wo Beethoven sie offenkundig selbst forderte – wodurch manche reizvolle Farbe fehlt.

In den Flöten sticht mitunter das erst durch Marcel Moyse um 1910 aufgekommene Dauervibrato gegenüber den nicht vibrierenden Streichern an manchen Stellen unangenehm hervor. Die auffallenden Unterschiede lassen darauf schließen, daß die erste Flöte in den verschiedenen Sinfonien alternierend besetzt wurde und nur ein Spieler bzw. eine Spielerin mit dem non Vibrato zurechtkam, der/die andere sich dem aber verweigerte. In punkto Historische Informiertheit sind manche Musikerinnen und Musiker

des RSO also erkennbar noch auf dem Weg.

Vergleicht man Norringtons frühere Gesamteinspielung mit dieser neuen, hört man zunächst einmal – einen anderen Stimmton: Die London Classical Players spielten mit a = 430, das RSO liegt bei wie üblich etwa 440 (oder noch etwas höher?). Dies ist aber gleichwohl historisch korrekter, denn jüngeren Forschungen von Bruce Haynes zufolge lag der Stimmton zu späteren Lebzeiten Beethovens in Wien offenbar doch zwischen 435 und 445 Hz. Schon in den ersten Takten der Einleitung der 1. Sinfonie erstaunt, wie sehr sich das Klangbild des RSO dem der Classical Players angenähert hat. Allerdings lassen sich auch die Musiker des RSO begeistert darauf ein, eng gebohrte, kleine Posaunen und Naturtrompeten sowie Pauken mit Naturfell zu verwenden, wodurch sich die Gesamtfarbe entscheidend ändert. Hinzu kommt die vergleichsweise geringe Besetzungsstärke der Streicher mit maximal 8 bis 10 ersten und zweiten Violinen, das Vibrato-arme Spiel der Streicher, sowie eine räumlich optimale Orchesteraufstellung mit links und rechts verteilten Violinen, was einen Gutteil des Klangcharakters formt. Die andere Seite des hier präsentierten Klangbildes sind die eigenwilligen Vorstellungen des Dirigenten, die oft so erfrischend sind, wie das durchaus mehrdeutige englische Adjektiv „Norringtonic“ andeutet und seine beredte, pointiert aus dem Affekt gestaltete Detailarbeit adäquat bezeichnet.

Schon die 1. Sinfonie belegt, daß Norrington inzwischen viele Stellen noch schärfer konturiert als vor 25 Jahren. Für meinen Geschmack übertreibt er es dabei aber manchmal. Wenn Beethoven sich beispielsweise in der langsamen Einleitung des 1. Satzes, T. 8 und 10, die Mühe macht, über jede einzelne Viertelnote „ten.“ („Tenuto“, = ausgehalten) zu schreiben, verstehe ich das so, daß er im Sinn hatte, die Töne ineinander übergehen zu lassen. Die in der Neueinspielung klaffenden Lücken (Tr. 1, nach 0’39) zwischen den Bläsern und Streichern sind mir entschieden zu lang gegenüber dem, was ich in der Partitur lese. Ebenso denke ich, wären die letzten vier Zweiunddreißigstel-Noten vor dem Allegro-Beginn (1’08) wohl doch bereits im Tempo zu spielen, da dieses Motiv thematisch ist (vgl. T. 18/1’06, nun vier Sechzehntel) und auch die Reprise des Themas entsprechend gestaltet ist (T. 178/6’13). Hier gibt es im Gegenteil ein Verzögern und Abschwächen.

Das Vorbringen solcher Details mag im ersten Moment erbsenzählerisch wirken. Gleichwohl fand ich in allen Sinfonien beim Mitlesen etliche solcher kleinen Fragezeichen, die die von Norrington in seinem Musizieren-lassen wohl selbst angestrebte Klarheit doch mitunter konterkarieren. Das gilt auch für die Tempi: Das Andante ist beispielsweise geringfügig schneller als Beethovens Metronomangabe (Achtel = 120) und auch insgesamt eine halbe Minute zügiger als die ältere Einspielung. Doch dies verschiebt nun (mich durchaus störend) den „Andante cantabile con moto“-Charakter entscheidend hin zum

„con moto“ und vernachlässigt so das ariose Moment – zumal Norrington hier die 1987 noch sehr diskrete Berücksichtigung von Beethovens Artikulations-Keilen ausgesprochen zackig haben wollte. Was nun allerdings in den ersten beiden Sinfonien so vorbildlich und überzeugend wie in sonst keiner mir bekannten Einspielung herauskommt, ist Humor, Ironie und das Spielen mit der Erwartungshaltung. Diese Drastik vermag den konservativen Fan romantischer Spielart von heute wieder genauso zu verstören wie Beethoven es beim damaligen Hörer auch beabsichtigt hatte. Schon hier geht auch die von Norrington selbst als ungewöhnlich bezeichnete Präsentation der Sinfonien in der Reihe ihrer Entstehung wundervoll auf, denn man erfährt die 2. Sinfonie im unmittelbaren Anschluß an die vergleichsweise gelassen-heitere Erste genau so, wie sie von Beethoven gedacht war – überspitzter, schroffer, grotesker. Bezeichnend dafür ist beispielsweise, daß sich Norrington im Finale der Zweiten noch mehr Zeit ließ als 1986, wodurch die Widerborstigkeit der Themen viel deutlicher herauskommt. Norrington investiert dieses Mehr an Zeit in geradezu ungeheuerliche Temposchwankungen auf engstem Raum, die dem Satz permanent den Boden unter den Füßen wegzuziehen suchen. So mehrdeutig und überzeugend habe ich dieses Finale noch nie gehört.

Die Besprechungen des kompletten Beethoven-Zyklus:

Dr. Benjamin G. Cohrs [04.08.2003]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Ludwig van Beethoven
1Sinfonie Nr. 1 C-Dur op. 21 00:25:20
5Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 36 00:31:30

Interpreten der Einspielung

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