Anzeige

Teilen auf Facebook RSS-Feed Klassik Heute
Klassik Heute - Ihr Klassik-Portal im Internet

CD • SACD • DVD-Audio • DVD Video

Besprechung CD

A. Scarlatti

Cantate da camera

Audax Records ADX11206

1 CD • 70min • 2022

16.03.2023

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 10
Klangqualität:
Klangqualität: 10
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 10

Klassik Heute
Empfehlung

Scarlatti kennt man, das ist doch der mit den schwierigen Klaviersonaten. Aber der heißt doch Domenico. Stimmt, aber dessen zu Lebzeiten wesentlich berühmterer Vater hieß Alessandro und war der Begründer der Neapolitanischen Opernschule, Erfinder der Da-Capo-Arie und damit leuchtendes Vorbild für Georg Friedrich Händel, Johann Adolf Hasse, Giovanni Battista Pergolesi und viele andere. Umso wichtiger also, dass Lucile Richardot und Philippe Grisvard für diesen zentralen Komponisten des italienischen Barock eine Lanze brechen.

Et in Arcadia ego

Weltliche Kantatentexte des Barock sind Geschmackssache, da sie uns inhaltlich nur schwer berühren können. Meist ist im mythischen Arkadien ein Hirt unsterblich in eine Nymphe verliebt und weiß nicht, ob er darüber sterben oder jubeln soll. Diese in einer idealen Landschaft angesiedelten Szenerien beschreiben die heile Traumwelt einer Zeit, in der jeder täglich mit Gewalt, Krankheit und Tod rechnen musste; ist deshalb durchaus vergleichbar mit den Filmkomödien um Schöne und Reiche in der Zeit des Kalten Krieges. Die in ihrer vermeintlichen Einfachheit höchst anspruchsvolle Lyrik der Mitglieder der römischen Accademia arcadiana – zu der später auch der berühmte Librettist Pietro Metastasio stieß – wurde vorbildlich für die Opera seria bis hin zu Mozarts Titus. Zudem ließ sich auf diese Weise versteckte Kritik und Klatsch über die Oberschicht geschickt kolportieren und der Hirte ist natürlich auch in der christlichen Symbolik prominent. So ist es denkbar, dass es in Wirklichkeit um die schöne Donna Daphne geht, die der Herzog von Mantua (Gott Apoll) dem Bischof von Urbino (Hirt) ausgespannt hat.

Anspruchsvolle Monodramen

Alessandro Scarlatti (1660-1725) komponierte ungefähr 500 dieser um die zehn Minuten dauernden Monodramen, die es ermöglichten, die Nuancierungskunst der Sängerstars dieser Zeit mit anspruchsvollster Poesie in intimer Umgebung zu erleben. Die Abfolge „Rezitativ-Arie-Rezitativ-Arie“ findet ihre Parallele in der barocken Sonate. Die durchaus auch ariose Elemente enthaltenden Rezitative können dabei in ihren schnell wechselnden Affekten die Wucht Monteverdischer Opernszenen oder die Dramatik Richard Wagners entfalten. Sie stellen den Sänger vor die Aufgabe, einerseits den Text in eine geschlossene Legato-Linie einzubinden, andererseits Licht und Schatten durch entsprechende Stimmfarben zu erschaffen, ohne allzu opernhafte Effekte einzusetzen. Der Cembalist hat die Gelegenheit, durch vollgriffiges Spiel, Kadenzen und Figuren seinen bezifferten Bass konzertierend an die jeweilige Stimmung anzupassen, was hohe improvisatorische Wachheit, großen Überblick wegen der oft überraschenden Modulationen und spielerische Virtuosität erfordert. Dies ist technisch ebenso anspruchsvoll wie das perfekte Transponieren von Hugo Wolfs Storchenbotschaft in eine dem Sänger genehme Tonart.

Ebenso anspruchsvoll wie die Accompagnements sind Scarlattis für Unterrichtszwecke geschriebene Cembalo-Toccaten, die – auch aufgrund ihrer spielerisch angelegten motorischen Fugen – und den nur per Bezifferung angedeuteten, ausgedehnten Arpeggio-Passagen ein direkter Vorläufer von Muzio Clementis „Gradus ad Parnassum“ sind.

Wertvolle Entdeckungen perfekt interpretiert

Lucile Richardot und Philippe Grisward gebührt höchstes Lob für eine perfekte Einspielung. Die Werke sind für einen Soprankastraten konzipiert und liegen mit einem Umfang von notiert c1 bis f2 ausgesprochen mittellagig. Deshalb ist ein Mezzo-Sopran aufgrund der größeren farblichen Möglichkeiten und wenn man die damals in Rom übliche Stimmung auf 392 Hz berücksichtigt, ideal für diese Kompositionen. Besonders dann, wenn man wie Lucile Richardot ein perfektes Legato mit absoluter Textverständlichkeit kombinieren kann. Hinzu kommen große Möglichkeiten, die Stimme durch entsprechende Mischung der Register dem emotionalen Gehalt gemäß zu färben. Sie weiß offensichtlich in jeder Zehntelsekunde, was sie gerade singt und was sie ausdrücken will. Sie verfügt über ein durchaus beachtliches, dunkel strömendes Volumen, kann aber die Stimme auch klein und schlank machen, was – auch aufgrund des schnellen Einschwingens und des flexiblen Vibratos – eine exzellente Technik beweist.

Philippe Grisvard, dem darüber hinaus ein hervorragender Beitrag fürs luxuriöse Booklet gelang, aus dem selbst der barockerfahrene Rezensent einiges gelernt hat, ist zunächst einmal ein ausgezeichneter Cembalist. Darüber hinaus ist er ein begnadeter Improvisator, der den Ziffern unter den Bass-Noten mit der rechten Hand Leben einhaucht. So ein flexibles, intelligentes und mitkomponierendes Continuospiel hat klaren Ausnahmecharakter und katapultiert ihn in die vorderste Reihe seiner Zunft. Das geht – auch aufgrund der gekonnten Kontrapunktierungen in den Arien – nicht besser.

Aufnahmetechnisch hätte ich dem sehr weich klingenden Cembalo (tiefe Stimmung mit echten Federkielen anstatt Plastik?) vielleicht noch ein wenig mehr Präsenz gewünscht. Booklet und Präsentation sind der reinste Luxus.

Fazit: Was die Lieder Schuberts, Schumanns, Wolfs für uns Heutige sind, waren die Solokantaten des Barock für das Publikum in Reifrock und Perücke. Wer sich auf diese Musik einlässt, erlebt ein Wechselbad der Gefühle auf kleinstem Raum. Pflichtkauf für Sänger, um zu begreifen, dass Virtuosität sich auch in Farbspielen zeigen kann, wenn man den Text ernst nimmt. Pflichtkauf für Cembalisten, um zu lernen, wie man die rudimentär notierten italienischen bezifferten Bässe in ein Feuerwerk aus Geistesblitzen verwandeln kann. Die Arien eignen sich – nebenbei bemerkt – auch als ausdruckvolle Sonatensätze. Unbedingt empfohlen und für die Jahresbestenliste vorgemerkt!

Thomas Baack [16.03.2023]

Anzeige

Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Alessandro Scarlatti
1Allegro g-Moll 00:01:14
2Al fin m'ucciderete H 21 (Kantate) 00:12:30
6Sarei troppo felice H 631 (Kantate) 00:13:02
13Toccata quarta a-Moll 00:05:16
15Sento nel core certo dolore H 655 (Kantate) 00:06:50
18Minuet e-Moll 00:00:41
19La Lezione di Musica H 547 00:08:12
26Toccata terza g-Moll 00:04:33
29Là dove a Mergellina H 356 (Kantate) 00:12:20

Interpreten der Einspielung

Das könnte Sie auch interessieren

16.03.2023
»zur Besprechung«

A. Scarlatti, Cantate da camera
A. Scarlatti, Cantate da camera

16.03.2022
»zur Besprechung«

Nicolaus Bruhns, Cantatas and Organ Works Vol. 1
Nicolaus Bruhns, Cantatas and Organ Works Vol. 1

12.08.2020
»zur Besprechung«

Johann Sebastian Bach, Concertos for Harpsichord and Strings Vol. 1
Johann Sebastian Bach, Concertos for Harpsichord and Strings Vol. 1

10.04.2020
»zur Besprechung«

Johann Sebastian Bach, St Matthew Passion BWV 244
Johann Sebastian Bach, St Matthew Passion BWV 244

Anzeige

Klassik Heute - Ihr Klassik-Portal im Internet

Anzeige